Berliner
Institut für
angewandte
Sozialwissenschaft

Forschungsfelder - Europa

Das Projekt Europa besteht aus einer Vielzahl unterscheidbarer Teilprojekte. Ihnen sind gleichwohl folgende Perspektiven gemeinsam: die Geschichte Europas in geografischer, geologischer, linguistischer, genetischer, ethnischer und kultureller Hinsicht und die Ausgestaltung einer europäischen Identität bis in die Gegenwart hinein. Dabei verweisen insbesondere sprachliche, familiale, agrarwirtschaftliche, städtebauliche, architektonische, ästhetische (Stile der Kunst in Musik, Malerei, Skulptur, Mode etc.) rechtliche, politische, administrative, technologische, wissenschaftliche u.a. Gesichtspunkte auf eine florierende, immer aber konturierte eigene europäische Identität, die sich von anderen klar typologisch und nach Indizes unterscheiden lässt.

Projekt Unser Europa >

Kultur Identität Grenzen >

1. Niedergang Europas oder hat Europa Zukunft?
2. Kultur und Kulturen Europas
3. Europa: Geschichte, Kultur, Identität- Mythen, Traumata und Triumphe, Helden
4. Europäische Führungsstile
5. Europa als Kulturkreis und andere Kulturkreise
6. Grenzen Europas – Grenzen seiner Identität
7. Migration, Völkerwanderung und kulturelle Integration
8. Politik in Europa: Demokratisierung und Friedenssicherung
9. Die Schweiz als Modell?

Europa als Zivilisation >

1. Modernisierung, Rationalisierung, Säkularisierung, Identitätstransformation
2. Moderne als Prozess der Zivilisation und seine Dimensionen
3. Der Kern der Dynamik der Moderne: Kreativität, kreative Milieus und Innovation
4. Statt clash: contest of Civilizations

Alltagskulturen >

1. Gelebte Kultur: Alltag und Hochkultur
2. Nahrung und Essen
3. Geografie und Landschaft
4. Regionen
5. Dorf und Stadt
6. Haus und Architektur
7. Technik
8. Recht
9. Schönheit, Körper, Kleidung, Trachten, Moden
10. Bilder und Skulpturen
11. Literatur
12. Musik
13. Sport
14. Europäischer Stil/ Europäische Stile

Europäische/r Stil/e >

Europäische/r Stil/e >

Der Begriff des Stils bezeichnet eine bestimmte Art und Weise der Formgebung. Diese steht manchmal, aber nicht immer, in einem inneren Zusammenhang zur Funktion bzw. zur Sache selbst (Beispiel: Bauhaus: Form follows function). Stile sind in der Regel temporär und wechseln sich ab, gewinnen ihre Eigenart eben durch diese zeitliche Differenzierung. Ebenso unterscheiden sich Stile sozial bzw. kulturell, denn eine ihrer Funktionen ist ja eben die Herstellung von Differenz bzw. "Distinktion" (Bourdieu: Die feinen Unterschiede). Stile markieren und erzeugen Differenzen und stabilisieren darüber Identitäten und stehen in der Regel in einem nicht zufälligen Zusammenhang zu dem Eigentlichen, der Sache selbst, der Identität oder worum es eben gerade genau geht. So sind z.B. neurotische Stile Modi der Konfliktverarbeitung, die bestimmten Modi der Konfliktverarbeitung, Charakterformationen und sozialen Milieus entsprechen.

Es stellt sich die Frage, ob es einen "europäischen" Stil oder europäische Stile gibt, die den europäischen Kulturkreis signifikant von anderen unterscheiden (Distinktion), anhand welcher kultureller Objektivationen er oder sie identifiziert werden könnten (Architektur, Musik, Malerei, Bildhauerei, Technik, Mode, Kleidung, Stadtanlage, Gartenarchitektur, Sakralgebäude, öffentliche Räume etc.).

Ein europäischer Stil per se ist vermutlich eine Tiefendimension im Verhältnis zu anderen europäischen Stilen. Es wird zu fragen sein, ob sich eine solche Ebene findet im Verhältnis zu den regionalen europäischen Stilen (mediterran, romanisch, zentraleuropäisch, nordisch etc.). Konzeptionell wäre hier an das Modell des ethnisch Unbewussten zu denken, wie es Devereux im Unterschied zum idiosynkratischen Unbewussten entwickelt hat. In beiden Fällen wäre der Stil eine Problemlösungsformation spezieller Ausprägung, die mit der umgebenden Kultur einerseits und Aufgabe bzw. Funktion andererseits korrespondiert.

Vielleicht ist es sinnvoll, hier eine Dimension exemplarisch herauszugreifen, z.B. die Architektur, weil an ihr vieles sichtbar gemacht werden kann und weil die epochemachende Arbeit von Bourdieu über den Habitus sich exemplarisch auf den Stil der gotischen Kathedralen (in seinem Bezug zur Funktion bezieht). Auch von anderen Autoren wird die Philosophie der Scholastik ja mit der Geometrie der gotischen Kathedrale verknüpft. Gewissermaßen die Kathedrale eine Stein und Glas gewordene Philosophie.

In neuerer Zeit ist es die „neue Sachlichkeit“, die Richtung, die das Bauhaus entwickelt hat, die später als International Style bezeichnet wurde, nachdem er in den USA ab den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts seinen Siegeszug angetreten hatte. Hier zeigt sich ein Formgestaltungswille analog oder in Folge der Funktion, wie er wohl einem europäisch fundierten Rationalitätsbegriff (Aufklärung, Rationalisierung ...) genuin am besten entspricht. Die aufgeklärte, die säkularisierte Architektur, die rein der Funktion folgt und ästhetischen Schnickschnack, Ornamentik einerseits, Jenseitsbezüge andererseits strikt vermeidet wie bei Sakralbauten oder den Bezug auf undemokratische Herrschaft, die in der Monumental-Architektur des Italien und Deutschland oder der Sowjetunion der 30er und 40er Jahre des 20. Jahrhunderts. Diese Architektur der neuen Sachlichkeit ist auch kleinteilig – egalitär, wie die Architektur des "neuen Frankfurt" zeigt, die Ernst-Mai-Siedlungen in Frankfurt-Praunheim, Römerstadt und Riederwald. Auffällig ist, dass der Stil der neuen Sachlichkeit vor allem in Deutschland, den Niederlanden, insgesamt eher in den mittel- und nordeuropäischen Ländern, weniger in den romanischen entstanden und verbreitet war. Dennoch oder deshalb wurde dieser Stil international weit rezipiert und war bis zu Beginn der sogenannten postmodernen Architektur weltweit erfolgreich.

Ein weiteres Beispiel aus dem Bereich der Massenkultur könnte die Gestaltung des Automobils sein, ebenso die Gestaltung des Interieurs von Häusern, Küche, Möbel etc. wo neben dem sachlichen (mitteleuropäischen) das "gute" Design einer differenzierten Formensprache insbesondere italienischer Herkunft dominiert. Das „gute“ Design ist ja überhaupt seit den fünfziger Jahren in den diversen Bereichen (Mode, Automobil, Haushaltstechnik, Einrichtungsgegenstände, Mobiliar, Essen) italienisch.

Vielleicht kann man auch sagen, dass die gelungene Stilbildung nicht nur dem Motto "Form follows function" sondern auch dem Motto "Form follows material" folgt: Die Form bleibt dem verwendeten Material nicht äußerlich, vergewaltigt es auch nicht zu beliebigen Formen, sondern bringt die Struktur des Materials in ihrer Gestaltung zum Ausdruck (Beton, Holz, Stahl etc. – Beispiel: Neue Nationalgalerie von Mies van der Rohe in Berlin, Glas und Stahl).

Die Eigenart des Materials selbst geht als Träger der Funktion in die Ästhetik der Form ein, die Form selbst, der Stil stellt beides dar und ist nicht mehr Hülle, Verkleidung, äußere Gestalt, stellt nicht mehr einen Bezug auf ein beliebiges Äußeres dar, das das Objekt instrumentalisiert (Herrschaft, Religion, andere symbolische oder repräsentative Funktionen, sondern die Funktion, die Aufgabe bringt sich selbst in Material und Form zum Ausdruck und vice versa (Rundhütte, Bad und andere architektonische Objekte von dem Designer Colani).

Das Puristische, die Reduktion in diesem Sinne wäre dann die Rationalisierung der Weltbezüge in der Architektur, analog zum allgemeinen Säkularisierungs- und Rationalisierungsprozess der Aufklärung und in dieser Hinsicht jedenfalls europäische Avantgarde, wenn auch nicht empirisch der europäisch massenhaft repräsentierte tatsächliche Stil. Aber die Charakteristika einer Kultur werden ohnehin erst einmal von einer Avantgarde entwickelt und dargestellt, bevor sie sich weiter ausbreiten. Das stellt die Frage, ob denn der Stil als Tiefenstruktur zeitlos ist oder in einer historischen Entwicklung begriffen, wofür ganz generell das Verhältnis von System und Geschichte spricht (Systeme sind nie zeitlos). Dann aber wäre die Textur der Avantgarde, die Tiefenstruktur der Moderne, auch die der Entwicklung des modernsten Systems, das gewissermaßen von vorne nach hinten aufgerollt würde. Der Schlüssel zur Vergangenheit ist so gesehen die Gegenwart.

Wesentliches Element der Bildung von Stilen ist Kreativität und Innovation, ebenso wie Bezug auf Tradition und Vertrautes. Nur durch den Bezug auf das Vertraute kann sich Neues bilden, dass er als solches erkannt und geschätzt wird.

Bildende Kunst und Malerei >

Die Frage, welches hier im Stil das typische europäische sei, ist scheinbar einfach zu beantworten. Seit der Antike, in Griechenland ebenso wie in Rom, auch zeitweise im Mittelalter und dann wieder Beginn der Neuzeit sticht hervor, dass immer wieder auch Individuen, spezielle besondere Persönlichkeiten in ihrer Einzigartigkeit dargestellt werden. Je näher eine Gegenwart ist, desto leichter ist das natürlich in Bezug auf die Quellen zu entscheiden und vielleicht war die Individualität griechischer Sportler und Philosophen oder römischer Senatoren und Feldherren auch nur eine Darstellung derselben - das ist im Einzelnen nur in Bezug auf die konkrete Quellenlage zu entscheiden.

In der Renaissance ist es jedenfalls soweit. Die Personen haben Gesichter (vergleiche die Ausstellung Gesichter der Renaissance Berlin 2011) und diese Gesichter wirken individuell und einzigartig. Schon deshalb, weil sie oft nicht schön sind im Sinne von ebenmäßig, wohlproportioniert, ansprechend, aufregend etc.. Durch die stilistischen Epochen hindurch zeigt sich entsprechend der kulturellen, sozialen und politischen Entwicklungen eine Logik der Abfolge von Bildern (und auch Plastiken): von religiösen Motiven (Gott, Maria, Jesus, Heilige etc.), zu Herrschern bzw. politischen Führern und bedeutenden Kriegsherrn hin zu hervorragenden Bürgern der neu entstehenden wohlhabenden Städte der Renaissance (insbesondere Norditalien, später die Niederlande) und auch anderen bemerkenswerten Personen wie Künstlern, - insbesondere weibliche - Schönheiten, alte Leute und Kinder. Die Gesichter zeigen ihre Mimik und die Mimik zeigt die Individualität.

Was in der Renaissance in einem vergleichsweise knappen Zeitraum konzentriert ist, ist bezogen auf die Entwicklung der bildenden und darstellenden Kunst in Europa über mehr als zweieinhalb Jahrtausende aufgefächert. Umberto Eco zeigt dies in seiner Geschichte der Schönheit. An diese Geschichte fällt für unsere Fragestellung als erstes auf, dass diese Geschichte ganz und gar auf Europa konzentriert ist. Wir können hier also zunächst nichts präzisieren, indem wir vergleichen, Kontraste herausarbeiten zu anderen Kulturen, vielmehr müssen wir die Sprache der Bilder selbst verstehen. Eco folgt zunächst der Darstellung weibliche und männliche Schönheit, unbekleidete und bekleidete. Die Idole Venus und Adonis als Symbole für Schönheit, Attraktion und Begehren treten durch die Jahrhunderte hin in immer neuer Gestalt und Typik auf. Auch hier eine Abfolge, die von nicht identifizierbaren Idolen, Bildern und Statuen vor allem von Götten und Göttinnen hin zu Herrschern, Adligen, Bürgern, Künstlern und deren Kontexten verläuft. Eine Entmythologisierung, ein Weg von der Religion und Macht hin zum menschlichen Alltag und so zu einer Ästhetik und Sinnlichkeit der konkreten Personen. Säkularisierung, Rücknahme von Projektionen, Realismus, Bezug auf Welt und Wirklichkeit und Schönheit in ihr. Das Europäische wäre dann eben dieses, der Bezug des Stils auf die wirkliche Welt und die Verwirklichung ästhetischer Wünsche, Gelüste und Fantasien in ihr.

Umberto Eco handelt die Schönheit in der Geschichte Europas nach dem Bezug auf die Körper der Menschen in ihren reflexiven Bezügen und in verschiedenen Historischen Etappen und kulturellen Systemen ab. Zusammenhänge bestehen zur Wahrheit, zur Freude, sie gipfeln im Guten und Schönen (kalokagathia), in der Schönheit geometrischer Formen, in Harmonie und Proportion und im Glanz. Die Spannungen zwischen dem Apollinischen und dem Dionysischen, dem Klassischen und dem Romantischen, dem Rationalen und dem Lustvollen bestimmen Kunst und Schönheit im Verständnis der europäischen Künstler wie Philosophen. Dort, wo das von den Menschen geschaffene aus Gründen der Funktion Relationen zu sich selbst herstellen muss, sind es solche rationaler Ordnung, der Zahl, der Proportionen, hier insbesondere in Musik, Architektur, aber auch in der Malerei (Perspektive). Aber dort, wo sie im Verhältnis zu sich selbst stehen oder zur Natur, ihrer eigenen oder der um sie herum, tritt dieses Spannungsverhältnis wieder auf, in der neueren Psychologie verstanden als Spannungen zwischen der kultivierten Oberfläche und der unbewussten Dynamik oder zwischen der Person und ihrem Schatten. So sind dann die Psychologien (Freud, Jung) ebenso wie auch Ästhetiken mit dieser Spannung erfüllt (Nietzsche, Adorno) und die Kunstwerke erst recht (Goya).

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